“Die Politik unterstützt den Betrug aktiv”, Hans-Ulrich Grimm
Lecker, lecker, leckerer gehts nicht: die Supermarktregale strotzen vor Vielfalt, die Restaurants überbieten sich mit vielfältigen Gerichten. Alles sieht gut aus. Alles schmeckt so gut und macht Lust nach mehr. Kein Wunder. Denn oft stecken Farbstoffe, Geschmacksverstärker und Konservierungsstoffe drinnen. Der bekannteste Ernährungsexperte und Bestsellerautor Hans-Ulrich Grimm spricht über die Ernährungsindustrie, die Macht von Aromen und wie er den Alltag mit Kindern meistert.
Essen ist eines der Grundbedürfnisse des Menschen. Wir essen mehrmals am Tag. Machen uns Gedanken, etwas in den Magen zu legen, satt zu werden. Die wenigsten machen sich jedoch Gedanken darüber, was sie genau essen und woher ihr Essen überhaupt kommt. Warum schenken dem so viele so wenig Aufmerksamkeit?
Das ist natürlich eine kulturelle Frage. In kulinarischen Hochkulturen wie Italien, Frankreich, China schenken die Menschen ihren Lebensmitteln selbstverständlich hohe Aufmerksamkeit. Schon in der Schweiz und in Österreich ist es anders als in Deutschland. Hier soll es vor allem billig sein, und neuerdings auch moralisch hochwertig. Genussfragen oder die eigene Gesundheit sind da eher zweitrangig.
Die Ernährungsindustrie hat in den letzten Jahren mit Skandalen, Betrügereien und sämtlichen Tricks Schlagzeilen gemacht. Warum kommt sie Ihrer Meinung nach beim Verbraucher immer wieder davon?
Das liegt am Skandalisierungsverhalten der Medien. Sie lieben es, Skandale lauthals anzuprangern, allerdings mit geringer Aufmerksamkeitsspanne. Den alltäglichen Skandal, etwa den permanenten Geschmacksbetrug mit industriellen Aromen, nehmen die Medien gar nicht als solchen zur Kenntnis. Zumal in neuerer Zeit, da sie sehr obrigkeitshörig geworden sind, und die Aroma-Betrügereien allesamt obrigkeitsseitig legalisiert worden sind. Da müssten die Medien Kritik üben, und das machen sie heute nicht so gern.
Veganismus ist Trend. Wie gefährlich sind Fleischersatzprodukte und warum?
Bei den heute beliebten Fleischersatzprodukten handelt es sich um sogenannte „ultra-verarbeitete Nahrung“, mit viel Chemie, High-Tech-Inhaltsstoffen, komplexen Produktionsprozessen, fernab des evolutionär Bewährten, übrigens auch mit üppig industriellem Aroma, wodurch der Körper in die Irre geführt und fehlversorgt wird. Das haben neue Studien in renommierten Wissenschaftsjournalen gezeigt – und zugleich auch, dass dies nicht nur der menschlichen Gesundheit schadet, sondern ebenso der Umwelt und dem Klima.
Wo liegt das Problem mit dem Zucker und sollte man ihn der Gesundheit wegen komplett meiden?
Das Problem ist das Zuviel: Die Überdosis Zucker. 83 Prozent ihrer täglichen Ration nehmen die Deutschen über industrielle Nahrung und damit versteckt zu sich. Das macht krank, und verstärkt überdies das Verlangen bis hin zu regelrechter Sucht, weil Zucker im Gehirn die gleichen Regionen anspricht wie Drogen, etwa Kokain. Jene 17 Prozent der täglichen Dosis, die der Durchschnittsdeutsche direkt einsetzt, als Zucker im Cappuccino, sind also gar kein Problem. Ich sehe mithin keinen Grund, ihn komplett zu meiden. Für die Gesundheit reicht es vollauf, um industrielle, vor allem „ultra-verarbeitete“ Nahrung einen Bogen zu machen, das senkt den Zuckerkonsum automatisch bis aufs verträgliche Maß.
Die E-Nummern regieren mittlerweile die Supermarktregale – wie bedenklich sind sie und warum macht die Politik nichts?
Die Politik macht schon etwas: Sie hat zum Beispiel die ganzen E-Stoffe erlaubt. Das bedeutet: Sie unterstützt den Betrug aktiv. Früher hat die Obrigkeit ein scharfes Auge auf Lebensmittelbetrügereien gehabt, sogar Todesstrafen ausgesprochen gegen Weinpanscher. Doch je kunstvoller die Tricks und Täuschungsmanöver wurden, desto toleranter ist die Politik geworden, hat sogar gemeinsam mit den Konzernen die heute gebräuchlichen E-Stoffe legalisiert. Sie dürfen selbstverständlich nicht gesundheitsschädlich sein – als individuelle Einzelsubstanzen. Allerdings wirken sie gemeinsam, eine E-Nummer kommt ja selten allein, und ermöglicht überdies den ganzen Kosmos der „ultra-verarbeiteten“ Nahrung, zu dem Fastfood und Fertiggerichte gehören, Softdrinks, Tiefkühlpizza, Snacks, Kinderprodukte – alles Nahrungsmittel, die es in der Natur nicht gegeben hat, und die dem menschlichen Körper massiv schaden.
Kann man überhaupt noch bedenkenlos ins Restaurant?
Wir gehen sehr selten ins Restaurant, vielleicht mal auf eine Pizza. Ansonsten sparen wir das Geld und gehen einmal im Jahr sehr teuer essen. Das macht (meistens) wirklich Spaß, schärft auch das Geschmacksbewusstsein unserer Kinder, die übrigens mit dafür verantwortlich sind, dass wir so selten essen gehen: ihnen schmeckt es zuhause einfach besser.
Was unsere Kleinsten essen: Große Cateringfirmen beliefern Kitas und Kindergärten mit Fertigprodukten. Wo ist hier die Gefahr?
Zum einen in der Geschmacksprägung: Kinder glauben ja irgendwann, dass Essen so schmecken muss, und mögen das tatsächlich. Und darin liegt die Gefahr: denn es ist ja schlecht für ihre Gesundheit. Das Kita-Mittagessen aus der Fabrikküche ist ebenfalls „ultra-verarbeitet“, und damit ultra-ungesund, vollgestopft mit Chemie, irreführenden industriellen Aromen, Problemstoffen wie Zitronensäure oder Phosphaten. Das bringt ein robustes Kind natürlich nicht um, vor allem, wenn es zuhause was Gutes kriegt. Doch oft ist das leider nicht so: In Großbritannien ist 72,6 Prozent dessen, was die Kinder essen, ultra-verarbeitet. Bei uns gibt es keine entsprechenden Zahlen, aber die würden wohl ähnlich aussehen – was absehbar verheerende Auswirkungen auf ihre Gesundheit hat, und natürlich auch ihren Geldbeutel, später im Leben, denn all die dadurch geförderten Krankheiten werden sie teuer zu stehen kommen.
Wie gehen Sie mit dem Dilemma um, dass man Kinder einerseits nicht aus dem sozialen Umfeld ausschließen, andererseits sie nicht mit Fertigprodukten und Süßigkeiten konfrontieren möchte?
Schwieriges Thema. Bei uns steht grade ein Kindergeburtstag an. Und natürlich gibt es da auch das Spiel mit der vielfach verpackten Tüte Gummibärchen, die man auspacken darf, nachdem ein Sechser gewürfelt wurde – aber mit Handschuhen, Mütze, Taucherbrille. Wir versuchen dann halt bei den Give-Aways auszugleichen, keine Smarties, sondern ein paar hübsche kleine Sachen, ein Büchlein, Malsachen. Einmal haben wir sogar einen Apfel hineingelegt.
Wie haben Sie es mit der Ernährung bei Ihren eigenen Kindern gemacht?
Geschmackserziehung. Man könnte auch sagen: Gourmet-Erziehung, was allerdings nichts Elitäres an sich hat, sondern dem entspricht, was Kinder in kulinarischen Hochkulturen früh lernen: Gutes von Schlechtem zu unterscheiden. Manchmal auch mit regelrechten Verkostungen: vegane Würstchen versus richtige, zum Beispiel. Alles fürs Geschmacksbewusstsein. Kürzlich hatte unsere kleine Tochter, zum Milchholen geschickt, aus Unkenntnis H-Milch mitgebracht. Ich hab diese dann in Gläsern auf den Tisch gestellt, also inkognito, als Blindversuch, beide Kinder haben dann praktisch synchron die Gläser gehoben, getrunken – und „igittpfuiteufel“ geschrien, was das denn für eine Milch sei, wollten sie wegschütten. Ich habe ihnen dann ausdrücklich gratuliert: Geschmackserziehung gelungen.
Was sind Ihre Tipps, um im Supermarkt nicht dem typischen Konsumdrang zu verfallen á la „ach, das könnte ich noch mitnehmen“ oder „das ist ja neu, nehme ich mit“?
Wir werfen tatsächlich so gut wie nie etwas weg, kaufen auch niemals zu viel, und wenn wir es doch nicht essen können, frieren wir es ein oder kochen auf Vorrat. Den Konsumdrang haben wir natürlich auch, bis hin zu den zeitüblichen Hamsterkäufen, die sich dann allerdings auf Mehl, Nudeln, Tomatendosen beschränken. Aber grundsätzlich kaufen wir nur das ein, was wir wirklich brauchen. Vielleicht hat liegt es daran, dass wir sehr oft einkaufen, mehrmals die Woche, womöglich erhöht das die Zielgenauigkeit, weil wir schon im Auge haben, was wir essen möchten, worauf wir Lust haben. Und so ist das übrigens auch vom lieben Gott oder Mutter Natur vorgesehen, materialisiert im Gehirn, im Hypothalamus, der den Bedarf des Körpers in Lust-Signale umsetzt. Denen müssen wir nur nachgehen, und der Körper kriegt, was er braucht. Und wenn’s gut war, gibt’s dazu, direkt aus dem Belohnungszentrum noch ein wohliges Gefühl.
Gespannt auf mehr? Weitere Infos von Hans-Ulrich Grimm und seinem Team findest du auf der Projekt-Website: https://food-detektiv.de